Wie EVIA AERO eine neue Ära im regionalen Flugverkehr einleiten will

Mit EVIA AERO entsteht einerseits eine emissionslose Airline, die mit elektrischen Flugzeugen im Regionalverkehr fliegen will. Andererseits will das Start-up die nachhaltige Energieversorgung der europäischen Regionalflughäfen sicherstellen. Als ECOMAT-Mitglied profitiert das junge Unternehmen von einer großen Luftfahrt-Community.

Ein nordeuropäischer Flughafen aus der Vogelperspektive betrachtet: Ein großes, betoniertes Vorfeld mit Terminalgebäuden, dazu Roll- und Landebahnen und rundherum viel kurz gemähte, grüne Wiese. So kennen wir es – ob auf dem Weg in den Urlaub oder bei der Rückkehr von der Geschäftsreise.

Wenn es nach dem Bremer Florian Kruse geht, fehlt in diesem Bild etwas: eine große Photovoltaikanlage. Denn der Flughafenexperte möchte nicht weniger als die Energieinfrastruktur kleiner Regionalflughäfen in ganz Europa nachhaltig umgestalten. Und er ist auf einem guten Weg dahin.

Erste konkrete Projekte für nachhaltige Energieerzeugung am Flughafen bahnen sich an

Wie etwa nahe des beliebten Badeorts Jurmala an der Ostseeküste Lettlands. In unmittelbarer Entfernung liegt ein kleiner, gleichnamiger Flughafen. Hier möchte Kruse zusammen mit der dortigen Betriebsgesellschaft eine 50-Megawatt-Photovoltaikanlage installieren. Die weitläufigen Flughafenliegenschaften eignen sich ideal dafür.

Dem Flughafen erschließt das eine neue Einnahmequelle. Auch deshalb hat Jurmala im Mai 2024 eine Absichtserklärung zusammen mit Kruses Start-up EVIA AERO über zweistellige Millionen-Investitionsbeträge unterzeichnet: „Regionalflughäfen haben es europaweit schwer seit der Coronakrise. Strecken werden eingestellt, ehemalige Frequenzbringer wie Geschäftsreisen sind seltener geworden. Es braucht neue Konzepte“, weiß Kruse.

Einzigartiges Geschäftsmodell setzt auf Zusammenspiel nachhaltiger Komponenten

Und mit denen winkt der Bremer. Der ehemalige Chief Commercial Officer beim Bremer Flughafen kennt nicht nur das Flughafengeschäft aus dem Effeff, er weiß auch wie man mit Fluglinien Gewinn macht. Diese beiden Welten führt er mit seinem Start-up EVIA AERO geschickt zusammen und strickt daraus ein europaweit einmaliges Geschäftsmodell, das auf mehrere Säulen setzt:

Die Airline

Im Zentrum steht die neue Airline „EVIA AERO“, die Kruse 2027 aus der Taufe heben will. Diese setzt auf emissionslose Flugzeuge, die entweder mit Wasserstoff oder mit Batteriestrom angetrieben werden. Zur Wahl stehen zwei noch in der Entwicklung befindliche Flugzeugtypen, bei beiden hat sich EVIA AERO mit frühzeitigen Bestelloptionen ganz vorne in die Produktionslose der Hersteller:innen eingereiht:

  • EVIATION „Alice“: Ein neunsitziges Elektroflugzeug mit einer Reichweite von 460+ Kilometern, dessen Zulassung gegen Ende des Jahrzehnts erfolgen soll. EVIA AERO will 25 Maschinen kaufen.
  • Cranfield Aerospace Solutions „Britten Norman Islander“: Ein neunsitziges Flugzeug, das mit Wasserstoffbrennstoffzellen elektrische Energie erzeugen wird. Erstzulassung wird für 2027 erwartet, Reichweite 400km+. EVIA AERO will 15 Maschinen kaufen und hat Absichtserklärungen für zehn weitere Maschinen der ebenfalls in Entwicklung befindlichen 19-sitzigen Version abgegeben.

Mit den Maschinen will Kruse in den Zubringermarkt einsteigen, also Punkt-zu-Punkt-Verbindungen auf regionaler Ebene anbieten. Hier eröffnet der elektrische Antrieb Vorteile. „Durch unsere Energieerzeugung vor Ort senken wir die Strompreise und müssen zudem kein Treibstoff-Hedging wie große Airlines betreiben, um uns vor steigenden Ölpreisen zu schützen“, ergänzt er. Das wirke sich positiv auf die Ticketpreise aus.

Die Energieinfrastruktur

Bisher fehlt es den 800 europäischen Regionalflughäfen an Energieinfrastruktur, um dieses emissionslose Fliegen zu ermöglichen. „Allein schon deren Stromnetze wären komplett überfordert, wenn wir plötzlich ein oder mehrere Flugzeuge mit 2 Megawatt laden wollen, ebenso fehlt es an Wasserstofftankstellen“, gibt Kruse ein Beispiel.

Deshalb möchte er gemeinsam mit den Flughafenbetrieben die Infrastruktur neu aufsetzen: Großflächige Solaranlagen erzeugen Strom, der dann entweder in Pufferbatterien zwischengespeichert oder in Elektrolyseuren vor Ort in Wasserstoff umgewandelt wird und so den Flugzeugen zur Verfügung steht. Überschüssiger Solarstrom kann der Flughafen selbst nutzen oder direkt ins öffentliche Netz einspeisen und damit Geld verdienen.

„Vor Ort erzeugter Strom ist billiger, als wenn wir ihn aus dem Netz kaufen. Das kommt wiederum den Airlines zugute, welche so die Ticketpreise senken und Kosten sparen können. Und die Flughäfen verdienen doppelt: Am Verkauf des Stroms an die Airlines und an das öffentliche Netz“, so Kruse.

Mit seinem Start-up will er die Planung und Organisation der kompletten Infrastruktur übernehmen, Energieerzeugung, Netz und Verbrauch. Neben dem lettischen Flughafen plant Kruse gerade diverse weitere Anlagen in Größen von 8 bis 90 Hektar, mitsamt Pufferbatterien von 10 bis 20 MW Leistung.

Die Flughäfen

Ein weiterer wichtiger Baustein ist die Lage der Flughäfen. Kruse konzentriert sich ganz bewusst auf Regionalflughäfen, mit zwölf Airports in Europa hat er bereits Absichtserklärungen (Memorandums of Understanding) unterzeichnet. Denn für sie ist das Geschäft mit den neunsitzigen Kurzstreckenflugzeugen besonders interessant:

„Wir wollen keine Strecken anbieten, die ohnehin schon von größeren Airlines angeflogen werden oder die schneller mit der Bahn zu erreichen sind. Hier können kleinere Flughäfen und Airlines nicht konkurrieren. Wir bedienen nur Strecken, die es so noch nicht gibt“, so der Luftfahrtexperte. Das seien Punk-zu-Punkt-Verbindungen mit wirtschaftlicher Relevanz. Ein Beispiel wäre Bremen-Brüssel, das über eine Double-Daily-Verbindung angeflogen werden könnte (frühmorgens hin, spätabends zurück, das spart bei unvermeidbaren Geschäftsreisen einen Hotelaufenthalt und damit Reisekosten).

Um die richtigen Strecken zu identifizieren, erstellt Kruses Team Standortstudien mit hunderten Regionalflughäfen in Europa, spricht mit lokalen Wirtschaftsbehörden und großen Unternehmen, um Bedarfe zu finden.

Die Finanzen

Der Aufbau nicht nur einer Airline, sondern einer ganzen Flughafeninfrastruktur ist kostspielig. Die wirtschaftlich angeschlagenen Regionalflughäfen Europas können diese Millioneninvestitionen aber nicht alleine stemmen. „Deshalb gründen wir mit jedem Airport ein Joint Venture, an dem wir uns zu signifikanten Anteilen beteiligen. Ergänzt durch Bankdarlehen – wie bei Investitionen in andere Energieprojekte wie etwa Wind- oder Solarparks längst üblich – können wir so die langfristige Finanzierung sichern“, rechnet Kruse vor.

Zudem griffen sie auf regionale Fördermittel zurück, die etwa von der EU oder der jeweils lokalen Regierung kommen. In Kombination mit dem Eigenkapital, was EVIA AERO dank ihrer Investoren mitbringt, ergäbe sich so ein solides Finanzkonzept.

„Wir haben die nachhaltige Regionalluftfahrt von vorne bis hinten durchdacht und durchkalkuliert. Es gibt neben uns zahlreiche Ansätze für nachhaltige Luftfahrt, aber viele davon sind Forschungsprojekte oder unkonkrete Ideen. Bei uns steckt ein funktionierendes Geschäftsmodell dahinter“, betont Kruse und macht damit auf die Einzigartigkeit seines Ansatzes aufmerksam.

Bremen als Sprungbrett für Luftfahrt-Start-ups

Große Visionen benötigen aber auch Menschen, die sie umsetzen. Heute beschäftigt Kruse ein neunköpfiges Team, bis 2025 will er es verdoppeln. Arbeit gibt es genug – und hier setzt das junge Start-up auf Bremer Arbeitsteilung. Denn den Engineering-Teil (elektrische Infrastruktur, Netze und Systeme) hat Kruse an die Bremer Niederlassung von Akkodis ausgelagert. Der Technologiekonzern in der Bremer Airport-Stadt – direkter Nachbar des ECOMAT – übernimmt so die Konzeptionierung des gesamten Energiesystems.

Damit kann sich EVIA AERO ganz auf den Geschäftsaufbau konzentrieren. Für Kruse selbst bedeutet das vor allem: viele Reisen. Beinahe jede Woche ist er in einem anderen europäischen Land, um mit Flughafenbetrieben zu sprechen oder bei den Flugzeugherstellern Feedback abzugeben. „Wir sitzen da in der Entwicklung im „Customer Advisory Board“ mit drin und sind froh, unser Know-how rund um den Betrieb beizusteuern.“

Ebenfalls froh ist Kruse darüber, Teil der Community im Bremer Forschungs- und Technologiezentrum ECOMAT zu sein. Einerseits, weil es den Zugang zu wesentlichen Playerinnen und Playern in der Luftfahrtindustrie ermögliche, die an der Nachhaltigkeit im Flugzeugbau arbeiten. Und andererseits, weil auch Bremen eines Tages Teil des Streckennetzes von EVIA AERO werden solle und die ECOMAT-Mitglieder mit ihrer internationalen Ausrichtung auch potenzielle Kundinnen und Kunden werden können. „Wir können so schnell Feedback einholen, neue Ideen ausprobieren. Diese kurzen Wege sind es, die Bremen für uns so wertvoll machen.“

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